The Human Experience: Kyle Baker - Jack Davis – Will Eisner.
Es geschah etwas seltsames während meiner Arbeit an DER COMIC IM
KOPF. Als die Pläne für das Buch konkreter wurden und ich begann,
das Buch zu schreiben, war ich ein absoluter Underground /
Alternative-Snob. Meine Comics kamen fast ausschliesslich von
Verlagen wie Fantagraphics, Top Shelf oder Drawn & Quarterly.
Mainstreamcomics sahen für mich alle gleich aus.
Aber
ich dachte, um eine Wissenslücke auszugleichen und nicht ignorant
dazustehen, sollte ich doch mal in die eine oder andere
Maistreamserie reinschnuppern. Ich besorge mir eine Ausgabe von
SCALPED.
Tja,
und ich war begeistert. Großartiges Script, großartiger Zeichner,
großartige Umsetzung.
Danach
kam 100 BULLETS, SEVEN SOLDIERS, SANDMANN, und und, und am Ende eines
Jahres hatte ich eine komplette Regalwand mit DC/ Vertigo-Comics.
Zu
meinem letzten Geburtstag schenkte mir eine Freundin eine Anthologie
von alternativen Comics. Ich blätterte darin, und sie sahen für
mich alle gleich aus.
Die
Vertigocomics werden von Leuten gemacht, die das visuelle Erzählen
auf dem höchsten Niveau beherrschen. Jede Seite 100 BULLETS ist eine
Lehrstunde in Seitenlayout. Aber was ich vor allem aus diesen Stories
mitnahm, war, dass es okay ist, wenn man möchte, dass die
Zeichnungen in einem Comic auch Spaß machen. Und wenn man diese
Erfahrung oft genug gemacht hat, kommt einem der spröde, stark
reduzierte Stil vieler alternativer Comics sehr genusslos vor, wie
eine alte, trockene Scheibe Brot. Und ich sehe viele steife,
ausdrucklose Gesichter und Körper, wenig Mimik, wenig Gestik. Die
Figuren wirken leblos, hölzern und haben das Ausdrucksspektrum eines
Nussknackers. Ich habe nicht das Gefühl, dass es den Zeichnern Spaß
gemacht hat, ihre Figuren abzubilden. Und ich habe nicht das Gefühl,
dass diese Zeichner Menschen mögen. Sonst hätten sie mehr Zeit
damit verbracht, ihre Gesichter, ihre Mimik und die Bewegungen ihrer
Körper zu studieren.
Und
das ist für mich das wunderbare an den Stilen von Kyle
Baker, Jack Davis und Will Eisner. Ihre Zeichnungen sind
leidenschaftliche Liebeserklärungen an die Menschen, ihr Verhalten
und ihren Körper. Ihre Figuren sind lebendig, fühlbar, und tanzen
auf den Seiten. Alle dieser Zeichner haben offensichtliche Jahre
damit verbracht, Menschen zu betrachten, und ihre Abbildung ist
überzeichnet und humorvoll, aber sehr dynamisch und lebendig. Bei
Kyle Baker ist es die Körpersprache, aber besonders die unglaublich
facettenreiche Mimik der Figuren, die sie auf der Seite lebendig
werden lässt. Ich finde es immer wieder unbeschreiblich, wie
treffend und lebendig seine Gesichter sind. Leider, leider hat es bislang noch keines seiner Bücher in die Übersetzung geschafft.

Sprechende Körper und Gesichter: ein Paar Momente aus YOU ARE HERE.
Jack
Davis ist, kurz gesagt, ein Genie. Der Witz ist, dass die Person Jack
Davis atemberaubend unspektakulär aussieht. Der Mann könnte
Busfahrer sein, Eisverkäufer oder Vertreter für Sanitärbedarf.
Stattdessen ist er einer der innovativsten, ausdrucksvollsten und
einflussreichsten Zeichner der letzten hundert Jahre, der Begründer
einer eigenen Stilschule, die tausende von Zeichnern geprägt hat.
Expressive Anatomie: eine Elvis-Studie aus dem Fünfziger Jahren.
Der
Autor David Sedaris erzählte einmal, wie er nach der Lektüre von
Lorrie Moore's BIRDS OF AMERICA so inspiriert war, dass er sich an
die Schreibmaschine setzte und in einem Stück eine komplette
Geschichte runterschrieb. Etwas ähnliches erlebe ich beim Betrachen
einer Jack Davis-Zeichnung. Ich könnte stundenlang darüber
schreiben, was dieser Typ mit der Anatomie macht. Die Gelenke lässt
er anschwellen, dass jeder Gichtpatient neidisch wird, und Kopf,
Hände und Füße sind alle stimmig in der Proportion, aber eben
grade einen Tick zu groß (okay, die Füße sind mehrere Ticks zu
groß). Die große Lektion, die Jack Davis erteilt, ist, dass er die
Anatomie des Körpers so gut kennt, dass er darüber hinausgehen
kann, sie abzubilden – das kann er längst. Er interpretiert sie,
er spielt mit ihr. Er staucht, zerrt, zieht und quetscht, wie es ihm
gefällt. Und ganz egal, welche Verschwurbelungen er seine Figuren
machen lässt, es sich immer „richtig“ aus. Und es ist diese ganz
eigene Anatomie, die ihn unverkennbar macht, egal ob es ein
reduzierterer, cartoonhafter Stil ist, oder ein detailliertes,
gemaltes Portrait für das TIME Magazine. Strich oder Fläche,
schwarz-weiss oder Farbe, Jack Davis' Stil, wie jeder echte Stil, ist
immer unverkennbar, quer durch alle Abstraktionsgrade und Medien.
Will
Eisner ist eine weitere Legende, über die man wenig Worte verlieren
muss. 2017 wäre Will Eisner 100 Jahre alt geworden, und seine
Geschichten sind die Geschichten eines Mannes, der seine „formativen
Jahre“ in den Zwanzigern und Dreissigern verbracht hat.
Dementsprechend wirkt die Körpersprache seiner Comics für heutige
Augen oft etwas theatralisch, als sähe man eine Stummfilm. Wenn man
Eisner liest, muss man immer damit rechnen, dass gleich jemand auf
die Knie fällt und zum Himmel fleht. Er war ein Kind seiner Zeit,
wie wir alle.
Und trotzdem haben seine Zeichnungen heute immer noch eine Eindringlichkeit und eine Menschlichkeit, der man sich schwer entziehen kann. Und die Liste der Dinge, die man von Eisner lernen kann, ist immer noch lang genug. Bei aller Qualität im Seitenlayout und im visuellen Erzählen haben viele Mainstreamzeichner beim Character Design ihrer Figuren ein Spektrum, das gerade mal von Ken bis Barbie reicht, mit jeweils verschiedenen Perücken und Frisuren. Will Eisners Menschen sind immer einzigartig, real und greifbar, und ihre Erscheinung und Körperhaltung sagt uns bereits eine Menge über ihren Charakter. Er benutzte den einfachen, aber genialen Trick, sich bei der Gestaltung von Figuren an Tieren zu orientieren, deren Attribute er in den Menschen subtil unterbrachte.
Sehr menschliches Character design: Eine Figur von Will Eisner. Wir ahnen bereits, dass "Pincus" nicht gerade der Gewinnertyp ist.
Seine
zweite große Stärke sind sein atmosphärischen und eindringlichen
Kulissen. Seine Straßen und Häuser haben ebensoviel Persönlichkeit
wie seine Figuren. Die meisten von uns hassen Background, Kulissen
und Perspektiven. Will Eisner liebte sie. Er hat ganze Bücher
einzelnen Gebäuden und Straßen gewidmet. Alle Gegestände und Hintergründe, die Häuser, Bäume und
Straßen sind ebenso„Eisner“ wie seine Figuren. Er sah und fand
Charakter und Persönlichkeit in Autos, Wohnungen, Häusern und Straßen.
Die "Sad street" ist nur ein Beispiel einer ganzen Reihe von Straßen mit Persönlichkeit. Niemand kann Häuser und Straßen mehr zum Leben erwecken als Will Eisner.
Will Eisner hat auch einige Bücher über Zeichnen und Storytelling geschrieben. Sie enthalten viele wertvolle Tips, aber oft habe ich das Gefühl, er bringt einem in erster Linie bei, wie er es macht und sieht. Zum Thema Comicautor und Scriptschreiben sagt er lapidar, Zeichner sollten ihr eigenes Script schreiben. Eisners Antwort auf die meisten Fragen zum Storytelling lautet Ei, mach es halt so wie ich.
Aber
seine Zeichnungen, sein Strich, seine ausdrucksvolle Anatomie, seine
Figuren und seine Straßen und Häuser sind endlos inspirierend und
auch heute noch voller frischer Ideen und Innovationen. So wie
gefühlvolles Musikstück niemals seine Energie verliert.
Take care & keep the faith, Spong
100 points wie immer,
AntwortenLöschenaber ich hätte dir glatt zugetraut, daß der musiklink zu iron maiden führt ...;)